Wozu das Verlangen nach Schönheit – Texte zur Zeit

Zu diesem Buch:

Gedichte! In einer Anthologie! Das sind eigentlich zwei Negativa auf einmal. Zumal die Produktionswut diverser Literaturkreise und Volkshochschulzirkel nicht nachzulassen scheint. Hinzu kommen Selbstpublikationen mit und ohne Druckkostenzuschußverlag, Zeitungen, Zeitschriften, Kataloge, Fanzines, Zettel an Wäscheleinen, Zettel in Straßenbahnen, Zeilen auf Brötchentüten (die Klorolle des Untertanen winkt), mehr oder minder gut besuchte Lesungen, Wettbewerbe, Preise, Stipendien, CDs, Kassetten, Ausstellungen und das Internet; eine Flut, in der sich niemand mehr zurecht findet und deren Gischt man auf den Messen in Frankfurt und Leipzig in Augenschein nehmen kann. Wozu also diese sechste Anthologie des Leipziger Literaturkreises – ein Tropfen mehr in den Wassern, den niemand mehr wahrnimmt? Zumal: die hohe Zeit der Lyrik in Ost und West ist gleichermaßen vorbei. Sofern man Lektoren in größeren Verlagen Glauben schenken darf, werden Gedichtbände hauptsächlich zur Imagepflege hergestellt, wenn etwas Geld übrig ist. Bekommt man dazu nur ein müdes Abwinken oder verhaltenes Lachen, ist man noch gut bedient. Alles in allem keine gute Zeit, für Bücher nicht und für Gedichte schon gar nicht. Eine Lyrikanthologie ist da eigentlich Harakiri.
Trotzdem legt der Leipziger Literaturkreis sein sechstes Buch vor (den Buchtitel lieferte wie in der fünften Anthologie „Und hab kein Gewehr“ eine Gedichtzeile) und nimmt für sich in Anspruch, all die aufgezählten Dinge und Umstände zwar im Auge zu haben, sich aber nicht von ihnen erschlagen zu lassen. Das ist ein wiederholtes Wagnis, auch wenn dieses Mal zum größeren Teil bekannte und gestandene AutorInnen vertreten sind, denen niemand eine selbst bezahlte Publikation unterstellen würde. Der Ãœberfüllung etwas hinzuzufüllen kann also kein Beweggrund sein, der, tatsächlich nach Inhalten schauen zu wollen, schon eher. Den allgemeinen Klagen über Werteverfall, Geschwindigkeitsrausch, Vereinzelung, Orientierungslosigkeit und so weiter werden hier leise, nachdenkliche, weiche Texte entgegengesetzt, in denen sich da und dort Ironie und Sarkas­mus, viel mehr aber Freundlichkeit, Wärme und Klarheit finden. Eigentlich sind viele der Texte der hier vertretenen Autoren fast kleine Wunder, Antagonismen ganz bestimmt. Sie kommen ohne Ãœbertreibungen, Analvokabular und krallende Bilder aus, und sie verlieren sich auch nicht in Gedankenakrobatik oder Bildungsbeflissenheit. Sie sind lesbar. Der Literaturbetrieb hat Anthologien anrüchig gemacht, das ist ein Problem. Dieses Buch wird es nicht lösen. Aber es kann zeigen, daß neben Eitelkeiten und Markt, Emsigkeit und Geschrei, noch ein Innehalten bestehen kann, welches ernst und heiter beschreibbar ist. Vielleicht ist dieses Zeigen, hinter dem ein Lebensentwurf steckt und der die bekannten Autoren vielleicht auch ihre Texte nach Leipzig schicken ließ, der eigentliche Wert, der in diesem Buch steckt. Zur Arbeit, die hinter uns liegt: Trotz der nicht übermäßig bekannt gemachten Ausschreibung erreichten uns über einhundert Einsendungen aus halb Europa. Die Auswahl dauerte Wochen, die Endauswahl fünf Tage und Nächte, von dreizehn Favoriten blieben sieben AutorInnen übrig, von sechs trennten wir uns schweren Herzens. Unter den Abgelehnten befinden sich durchaus bekannte Namen, der Anteil von Frauen und Männern war etwa gleich groß, die Zusendungen aus den alten Bundesländern überwogen, es gab reichlich Telefonate, weil eine Zeitschrift nicht in der Lage war, den Ausschreibungstext vollständig zu drucken, es gab den einen oder anderen Versuch sich einzukaufen, der Verbrauch an Kaffee und Zigaretten nächtens erreichte enorme Ausmaße und Telefongespräche vor zehn Uhr morgens wurden zur Tortur. Das ist nun alles vorbei, unser Idealismus dümpelt als schlaffer Luftballon dicht über dem Boden, das Ergebnis befindet sich zwischen zwei Buchdeckeln, gut. Das Buch ist da, trotz Geldknappheit, Talkshows, Hochwasser und Kriegsgefahr hinterm Horizont. Ich freue mich sehr, diese Anthologie dem Leser empfehlen zu können. Hier sind handfeste und vielleicht gerade ihres überwiegend höheren Alters wegen heutige Autoren versammelt, die etwas zu sagen haben und die das in ihren sehr unterschiedlichen Sprachen auch tatsächlich können, eine Handreichung, die viel weiter zeigt als nur bis zur nächsten Straßenecke, diese aber ganz bestimmt nicht übersieht. Die Widerspiegelung des Jetzt und Hier ist gelungen, so daß mit Recht gesagt werden kann, dies sind Texte zur Zeit, die, und das ist ganz wichtig, ein Für haben.

Thomas Bachmann