Rezension zu „Rübezahl. Ein Geist? Ein Gott? Ein Eulenspiegel?“ von Václav Maidl, erschienen in „Germanoslavia“, Prag 2021

Reiner Neubert: Rübezahl. Ein Geist? Ein Gott? Ein Eulenspiegel? Leipzig: Lychatz Verlag, 2018, 293 S. ISBN 978-3-942929-57-8.

Laut der bibliografischen Information der Deutschen Nationalbibliothek könnte man mei­nen, dass der eruierte Germanist Reiner Neubert eine Abhandlung über die schlesische Sagenfigur verfasste. In Wirklichkeit handelt es sich, wie das Titelblatt auch bekennt, umBekannte und unbekannte Geschichten vom abenteuerlichen und weltberühmten Gespenst Rübezahl von Johannes Praetorius, die von Thomas Bachmann sprachlich in das 21. Jahr­hundert übertragen wurden. Der Übertragung liegt die letzte Ausgabe des Werkes von 1920 im Insel-Verlag (Reprint 1970) mit einem Nachwort von Fritz Bergemann zugrunde, das in die jetzige Ausgabe ebenfalls inkorporiert wurde. Das Buch, von innen in den Abdruck der ältesten Landkarte Schlesiens vom Breslauer Kartograf Martin Helwig (1561) eingebunden, wird mit Reiner Neuberts Überlegungen über die Figur Rübezahls und deren Darstellung bei einzelnen deutschsprachigen Autoren (Johannes Praetorius – Johann Karl August Musäus – Otfried Preussler) eingeführt, wobei er auch auf die von Harald Salfellner 2015 in Prag herausgegebenen Sagen vom Rübezahl. Geschichten und Legenden aus dem Riesengebirge aufmerksam macht.

Die eigentliche Ausgabe bringt dann 135 Geschichten über Rübezahl in zweifacher Form: auf der linken Seite im Wortlaut von Praetorius, auf der rechten Seite parallel die zeitgenössische Übertragung. Um welchʼ schwierige Aufgabe es sich handelte, belegt ein etwa dreißigseitiges Glossar am Ende des Buches, in dem Thomas Bachmann die in seiner Übertragung belassenen Ausdrücke aus französischer, italienischer oder lateinischer Sprache, aber auch inzwischen antiquierte Ausdrücke aus dem Deutschen erläutert. Es war einerseits schier unmöglich, alles zu ersetzen, was die Lektüre heute erschwert, andererseits hätte der für Praetorius typische Stil durch eine völlige Überarbeitung Einbußen erfahren müssen – und es wäre kein Praetorius mehr gewesen! Bachmanns Übertragung halte ich also für gelungen, dem heutigen Leser zugänglich und zugleich den Duktus von Praetorius erhaltend. Und wer sich mehr in den eigentlichen Praetorius-Text vertiefen möchte oder Bachmanns Leistung im Detail betrachten und mit der Urfassung vergleichen will, braucht im Buch nur nach links zu wechseln (wenn auch Bergemann in seinem Nachwort bestimmte Textreduktionen des Originals andeutet: „‚Wo sich dieser [= J. Praetorius] mit seiner Gelehrsamkeit allzusehr breit macht, sind ihm die geilen Schößlinge seiner Magisterweisheit beschnitten worden.‘“ 130).

Die konkrete Übertragung eines Textes aus dem 17. Jahrhundert weist allerdings auf ein allgemeineres Problem hin, nämlich auf das Veralten der Texte aufgrund der sich schnell än­dernden Realität und folglich auch der Sprache. Somit berührt man das Thema des Umgangs mit der sog. Schulpflichtlektüre, die gewissermaßen den Kanon jeweiliger Literatur darstellt. Ganz konkret auf ein anderes Feld übertragen: Inwieweit ist Die Großmutter von Božena Němcová für heutige Schüler und Bohemistikstudenten noch sprachlich verständlich? Sollte man nicht eine rücksichtsvolle Übertragung in das Gegenwartstschechisch versuchen? Würde man solche Übertragung nicht als eine Schändung des „Nationalkleinods“ betrachten? (Wobei man bedenken muss, dass nicht nur die Sprache, sondern auch die von Němcová sorgfältig dargestellte Agrarwelt und Agrar- und Ständegesellschaft dem Leser von heute fremd vor­kommen werden.). Stellt man sich diese Fragen, schätzt man das Ergebnis von Bachmanns Arbeit noch mehr.

Da die Besprechung für die Zeitschrift Germanoslavica bestimmt ist, ist mir noch ein Punkt wichtig: die Verankerung der Gestalt des Berggeistes vom Riesengebirge in tschechischer und polnischer Kultur, sei es in verballhornter Form Rýbrcoul, in wortwörtlichen Übersetzungen Řepočet, Liczyrzepa, Rzepiór oder in neu erfundenen Namen wie Krakonoš, Karkonosz bzw. in allgemeiner Bezeichnung Duch gór. Diese Bezüge werden sowohl bei Neubert als auch bei Bergemann nur angedeutet. Eben deshalb verdient der knapp und bündig geschriebene Aufsatz Rýbrcoul. „Zlej duch, který na horách číhá“ [Rübezahl. „Ein böser Geist, der in den Bergen lauert“] vom Germanobohemisten Ladislav Futtera erwähnt zu werden, der im November 2017 in der Zeitschrift Dějiny a současnost (Jg. 39, Nr. 9, S. 32-34) veröffentlicht wurde, denn Futtera verfolgt Rübezahls Figur in ihrer Entwicklung von den Sagen mittelalterlicher Bergleute über die Aufnahme im tschechischen Milieu (die ihre Anfänge 1618 mit Havel Želanskýs Werk O zlých anjelích neb ďáblích [Über böse Engel alias Teufel] sogar noch vor Praetorius nahm) über die Darstellung Rübezahls in deutschsprachiger und tschechischer Literatur bis zur Blüte des Karkonosz-Kults im heutigen Polen. Als Germanobohemist ist er nicht nur detailliert über die Tradierung des Rübezahls-Stoffes in der deutschen Literatur informiert, insbesondere interessiert ihn aber diese Tradierung im böhmischen Raum, wo er verdienstvoll auf Wolfgang Adolph Gerles Volksmärchen der Böhmen (1819) und ihr zweites Bändchen erinnert, in dem sich eine märchenhafte Abhandlung über Rübezahl, der Herr vom Berge und drei Märchen mit Rübezahl als einer der handelnden Figuren befinden. Futteras vergleichender Aspekt auf dieser kleinen räumlichen Fläche ist motivierend und zeigt die Richtung, in welche sich die Forschung um Rübezahl – Krakonoš – Liczyrzepa bewegen könnte und sollte.

Václav Maidl

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