Rezension zum Kinder-Rübezahl von Reiner Neubert

Ein anderer Rübezahl

Der vielseitige Künstler und Leipziger Schriftsteller Thomas Bachmann hat sich erneut der Sagengestalt Rübezahl zugewandt. Diesmal lautet der lapidare Titel „Rübezahl, neu erzählt“ (2018). Das Kinder- und Jugendbuch, das sicherlich auch für Erwachsene geeignet sein dürfte, erschien soeben im Lychatz-Verlag Leipzig, angereichert mit Illustrationen von Hetty Krist.


Leider ist im Buch lediglich aus dem Werbeblock des Verlags (S. 108) zu entnehmen, dass Bachmann bereits am ebenfalls in diesem Jahr veröffentlichten Buch „Rübezahl. Ein Geist? Ein Gott? Ein Eulenspiegel?“, erschienen im gleichen Verlag, den Hauptanteil leistete, indem er die dort als Grundlage benutzte erste Originalausgabe der Rübezahl-Sagen des Leipziger Magisters Johannes Praetorius (1630-1680) aus den Jahren 1662 bzw. 1668 sozusagen neu erzählte und zusätzlich ein umfangreiches Glossar dazu erstellte. Selbiges Original wurde im Jahr 1920 in einer Reprint-Ausgabe des Insel-Verlags Leipzig nochmals ediert und hier als Basis neben die Neuerzählung gelegt, so dass man gewissermaßen zwei Bücher in einem vor sich hat. Darin sind 135 Texte zusammengetragen, und ein informationsreiches Nachwort erläutert die historischen und bibliografischen Zusammenhänge im Hinblick auf die bekannte Sagengestalt, die im schlesisch-böhmisch-deutschen Raum ihre Ausprägung erfuhr und hier und heute, da und dort noch lebendig zu sein scheint.

Bachmann hat nun etwa ein Drittel jener Texte ausgewählt, die er für den kindlichen Adressaten für geeignet hielt, und hat sie nun wiederum neu erzählt, ohne die ursprüngliche Intention aufzugeben, archaisch und zugleich modern zu erscheinen. Er schuf dazu einen poesievollen Rahmen, der jener damaligen Erzählsituation nahe zu kommen versucht, die aber auch heute mitunter noch wünschenswert wäre. Indem er einen Wanderer als Erzählfigur einführt, der in der turbulenten Zeit des 30-jährigen Krieges (1618-1648) und in der Folge umher geht, ein Quartier zu suchen vorgibt, auf eine armselige Hütte trifft, die von einer Frau und ihren zwei kleinen Kindern bewohnt wird, wird der Erzählanlass geschaffen. Denn Äquivalent für einen Aufenthalt im Kreis dieser Familie ist die Bitte, Geschichten zu erzählen. Und diese Situation wird nun über mehrere Tage hinweg aufrechterhalten, denn jeweils morgens und abends erzählt der liebenswerte alte Wanderer nun beim Schmauchen einer Pfeife jene Episoden über Rübezahl.

Dazu bemüht Bachmann bewusst den Bezug zu den Märchen aus „Tausendundeiner Nacht“ und die Erzählstrategie der Schehezerade, die dort den Sultan mit dem Vortrag von Geschichten gewissermaßen besänftigt und für sich willfährig macht. (S. 28 ff.) Hier sind es in umgekehrter Weise die Kinder, die von dem Erzählten profitieren und dadurch in Interaktion geraten. Die derart entstehenden Gesprächssituationen, die heutigen, anheimelnd wirkenden Vorlese-Aktionen gemäß erscheinen, sind demgemäß, weil die Kinder natürlich Zwischenfragen stellen, Aussagen des Wanderers oder ihrer Mutter, die sich ebenfalls einschaltet, bezweifeln und damit auf naiv-kindliche Weise die Figur des Rübezahl aus heutiger Sicht bewerten. Diese Dialoginhalte übernehmen gleichsam die Funktion des Glossars, denn es erfolgen in den Argumentationen sowohl Worterklärungen und Kommentare, aber darüber hinaus werden auch moralische oder gar philosophische Exkurse geleistet, die das Kinderbuch sehr aktuell erscheinen lassen, ohne den pädagogischen Zeigefinger zu weit zu erheben. Das betrifft bspw. sowohl einige Details, die mit dem schweren Leben der Bevölkerung zusammenhängen, wie es in der Folge des 30-jährigen Krieges in weiten Landesteilen der Fall war (Gemessen an der Bevölkerungszahl forderte dieser Krieg prozentual mehr Opfer als der Zweite Weltkrieg!), als auch den Disput um den Sinn oder Unsinn von Kriegen überhaupt; sie seien dauerhaft abzulehnen, weil sie stets als „fressende Riesen“ (39) Unheil anrichten würden.

Auch die philosophischen Einschübe sind kindgemäß. Im Hinblick auf die wesenseigene Zauberei Rübezahls in der Episode „Ein Kegelspiel“ (24 ff.) wird über das Denken reflektiert: „Ich denke, also bin ich.“ (26) Kinder und Erwachsene wenden diese These nun hin und her, was wiederum die Wesensart kindlichen und naiven Diskurses einprägsam inszeniert. Oder die Liebe: „Ohne die Liebe gäbe es das Leben nicht.“ (36) Im Gespräch wird dann erörtert, dass Liebe, Leben und Tod zusammengehören, ohne eine dieser Gegebenheiten auszuklammern. In der Wertung Gretes, die Liebe sei wie Schnupfen, weil sie komme, wann sie wolle, wird die Unendlichkeit dieses Themas und Sachverhalts angedeutet. Letzteres bezieht sich übrigens auch auf die einzige Geschichte im Buch, die nicht aus dem Fundus von Praetorius stammt, sondern dem berühmten Märchen- und Sagensammler Karl August Musäus (1735-1787) zuzuordnen ist. Darin wird, episodenreich und märchenhaft ausgeschmückt, die sonderbare Liebesgeschichte Rübezahls zur Prinzessin Emma geschildert, die den Geist des Riesengebirges überlistet und ihn letztlich dazu zwingt, Rüben anzubauen und sie genauestens zu zählen, um mittlerweile aus dessen Reich entfliehen zu können. Aus diesem Vorgang leitete sich auch eine der vielen Namensdeutungen für den Berggeist ab: Rübenzähler.

Bachmann liefert im Buch einige Beispiele für die differenzierte Wesensart Rübezahls. Er lässt ihn als Zauberer, wunderlichen Geist, sanft und hilfsbereit auftreten, meist mit einer Portion hintergründigen Humors, der mitunter auch in Satire oder Groteske umschlägt. Aber auch der brutale, herrische und unberechenbar spontan agierende Geist findet seine Gestalt, genauso wie es einige exotische Episoden ins Buch geschafft haben (Der arme Hund; Der Rittmeister; Schützenfest u.a.).

Mit dem „Fernrohr Zeitgeschichte“ (38) holt Bachmann historisch genaue und (scheinbar) belegbare Fakten und Zahlen vor das Auge des Lesers und Zuhörers, denn das Vorlesen und Vortragen ist sowohl textlich als vergangen und stattgefunden nachempfunden, als auch für den heutigen Adressaten initiiert. Das schafft ein Gefühl der Authentizität des Erzählten im Text. Konkrete Jahreszahlen, die von 1620 bis 1662 reichen, und noch heute nachzuweisende Orte der Handlungen des Berggeistes sowie auch einiger Erzählanlässe reichen von Warmbrunn über Hirschberg, Greifenberg, Schmiedeberg, Liegnitz, Breslau und die Schneekoppe bis nach Leipzig, wo die meist mündlich überlieferten Episoden Praetorius erreichten und von ihm aufgeschrieben worden sind. Das ist natürlich für die Erklärung des Wesens unseres Genres der literarischen Sage nicht unwesentlich – im Unterschied zum erfundenen Märchen. Am Beispiel der Episode „Drei Männer mit Tanzbär“ (79 ff.), in der drei polnische Musikanten wandernd um Anerkennung und Lohn ringen, werden auf vereinfachte Weise komplizierte Konfliktlagen für Kinder begreifbar dargestellt. Der scheinbare Konflikt zwischen Rübezahl und den drei Polen wird auf heutige Gegebenheiten umgemünzt, indem das Gespräch mit den Kindern auf gegenwärtige Auseinandersetzungen zwischen Russen und Amerikanern, Frankreich und Algerien, Spanien und Katalonien, Thüringen und Preußen (?) bzw. auf die militanten Kämpfe zwischen Angehörigen verschiedener Hautfarben übertragen wird. (82) Das Fazit wird als offenes Problem fixiert, indem die Vision einer Familie bemüht wird: „Und Rübezahl gehört auch zur Familie?…Natürlich…Alle Geister gehören zur Familie. Es wäre stinklangweilig ohne sie…Und die drei Polen? …Gehören zur Familie…Wir sind Nachbarn, es wäre dumm, wenn wir uns nicht vertragen würden.“ (82)

Ist es ein Kunstgriff, oder ist Bachmann die Puste ausgegangen? Die letzten zehn Episoden werden ohne Zwischengespräche aneinandergereiht, weil der Wanderer die Texte nachts schriftlich fixiert hatte und beim nunmehr dringlichen Abschied (muss es gleich einen Abschiedskuss geben?), der kein endgültiger sein mag, der Mutter übergeben hatte. Diese Texte werden nun von den beiden Kindern und ihrer Mutter vorgelesen, womit jene bereits benannte Vorlese-Situation bildhaft inszeniert wird, so als seien der Wanderer, der Geist Rübezahl und der Autor anwesend.

Die Illustrationen von Hetty Krist sind teilweise textbegleitend, ab und an recht provokant und derb, in ihrer Farbgestaltung auch dissonant und aufwühlend, auf jeden Fall provozierend. Bereits der auf dem Schwein reitende Rübezahl auf dem Cover veräußert das ihm eigene widersprüchliche Wesen, einerseits brutal und aggressiv, aber auch zutraulich und gutmütig zu wirken, so wie das Schwein lächelnd (?) seinen Spießwurf beäugt; es fehlte nur noch, dass die Sau auf einem Auge blinzelt…

Für besonders gelungen halte ich die sorgsame Sprachgestalt der Texte zum Berggeist, die naiv-kindlich wirkenden Dialoge der Zuhörer im Text, also der Kinder und Erwachsenen, die fließenden Übergänge zwischen den Episoden, ihre historische Genauigkeit, die scheinbare Authentizität vermittelt, und die dem Adressaten angemessenen moralischen und philosophischen Exkurse.

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